Sagt bloß nicht „Hauptsache das Kind ist gesund“

Wie traumatische Geburten das Leben von Gebärenden und ihrer Familie beeinflussen können und warum es mehr Aufklärung rund um die Geburt braucht

Studien bestätigen, dass bis zu ein Drittel der Mütter von der Geburt ihres Kindes traumatisiert sind. Gleichzeitig werden Gebärenden viel zu oft die negativen Gefühle nach einer Geburt abgesprochen. Noch viel zu häufig müssen sie selbst herausfinden, dass sie nicht Schuld tragen an dem Erlebten. Dabei unterstützen kann das Hilfetelefon nach schwieriger Geburt, das nun vier Jahre alt wird.

Bonn, 18. Juni 2024.  „Die Geburt meiner Tochter war für mich der schlimmste Tag in meinem Leben.“ So beginnt das Buch von Lena Högemann, Mutter von mittlerweile zwei Kindern, Autorin und freie Journalistin. In ihrem Buch „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen“ beschreibt sie nicht nur, was Gebärende während der Geburt erlebt haben. Es geht auch darum, was werdende Eltern tun können, um sich vorzubereiten.

Für die Zeit nach der Geburt wächst mittlerweile das Angebot für Ratsuchende. In einigen Krankenhäusern fragt psychologisches Personal schon auf der Wochenbettstation nach dem Befinden der frischgebackenen Mutter und verweist auf erste Anlaufstellen. Dazu gehört auch das Hilfetelefon nach schwieriger Geburt (www.hilfetelefon-schwierige-geburt.de), welches bereits im fünften Jahr Betroffenen und Angehörigen ein Ohr leiht. Denn: „Noch viel zu häufig stehen betroffene Mütter alleine da und müssen selbst herausfinden, wo sie Hilfe erhalten können.“, berichtet Katharina Desery, Vorstand beim Verein Mother Hood und Initiatorin des Hilfetelefons. Das einmalige Hilfsangebot hat das Ziel, Menschen nach einer schwierigen und belastenden Geburtserfahrung eine leicht erreichbare Anlaufstelle zu bieten. Die Hotline ist zweimal in der Woche mittwochs von 12 bis 14 Uhr und donnerstags von 19 bis 21 Uhr unter der Rufnummer 0228 9295 9970 erreichbar. 

Die mehr als 20 Beraterinnen des Hilfetelefons hören den Anrufenden gut zu, ohne zu werten. Sie informieren, welche Therapieformen in Frage kommen können und beraten zu passenden Unterstützungsangeboten. Dazu gehören bspw. Therapieformen wie Traumatherapie oder Psychotherapie. Diese können genauso helfen, wie eine Beratung bei einer Schreibabyambulanz oder eine Familienberatung. 85 Prozent der Anrufenden gaben an, sich so eine weitere Unterstützung holen zu wollen. 

Dass der Bedarf ungebrochen ist, zeigt beispielsweise die Auswertung des Hilfetelefons. Laut der anonymisierten Fragebögen, die zu Statistikzwecken erhoben wurden, fühlten sich 52 Prozent der Anrufenden nicht gut aufgeklärt, 49 Prozent nicht aktiv in den Geburtsvorgang einbezogen. 36 Prozent konnten einem medizinischen Eingriff gar nicht zustimmen. Mehr als jede vierte Frau (26 Prozent) erlebte einen medizinischen Eingriff, obwohl sie diesen abgelehnt hat. Zu den am häufigsten angegebenen Eingriffen (Mehrfachnennung möglich) gehört die Geburtseinleitung, die Anwendung der Saugglocke, der Kaiserschnitt und der Kristeller-Handgriff, bei dem das Kind mit Hand oder Unterarm aus dem Bauch der Gebärenden herausgedrückt wird.

Auch Lena Högemann hat Monate gebraucht, um zu verstehen, dass sie gewaltvolle Übergriffe während der Geburt ihres Kindes erlebt hat. Es dauerte lange, bis sie verstanden hat, dass nicht sie Schuld war an dem Erlebten. Nachdem sie ihre Erfahrung verarbeitet hatte, schrieb sie für Schwangere und betroffene Familien ein Buch.

Kurzinterview mit Lena Högemann

Was möchten Sie mit Ihrem Buch bewirken?

Ich möchte, dass Frauen nach belastenden Geburten verstehen, dass sie nichts dafür können. Sie sind nicht schuld. Schuld ist das System, das sich so oft über das Selbstbestimmungsrecht von Frauen hinwegsetzt. In meinem Buch erzähle ich meine Geschichte und die von dreißig anderen Müttern und Vätern. Uns alle vereint, dass wir Unrecht erlebt haben und dass das schlimme Folgen hatte. Aber: Wir haben uns Hilfe gesucht. Ich möchte Frauen nach traumatischen Geburten auch sagen: Es wird alles gut. Du darfst dir Hilfe suchen. Und: Du bist nicht allein mit dem, was du erlebt hast.

Was bedeutet eine selbstbestimmte Geburt für Sie?

Selbstbestimmt zu gebären heißt vor allem, dass ich als Frau mit meinen Wünschen und Vorstellungen im Mittelpunkt des Handelns von Ärztinnen, Ärzten und Hebammen stehe. Jede Frau ist anders, jede Geburt ist anders. Es macht überhaupt keinen Sinn, dass Geburten in vielen Kliniken anhand von medizinischen Routinen ablaufen und nicht auf die jeweilige Frau geschaut wird. Deshalb informiere ich in meinem Buch ehrlich über das System Geburtshilfe. Nur mit dem notwendigen Wissen können Paare sich gut auf die Geburt vorbereiten und für ihre Selbstbestimmung eintreten.

Was hätte Ihnen damals nach Ihrer Geburt geholfen?

Mir hätte eine zugewandte Hebamme geholfen, die sich um mich kümmert und mich fragt, wie es mir geht. Leider war es meine Beleghebamme, die schlimme verbale Gewalt bei der Geburt ausgeübt hat und uns danach auch nicht geholfen hat. Ich hätte gerne früher erfahren, dass ich nicht etwas falsch gemacht habe bei dieser traumatischen Geburt, sondern dass mir Unrecht geschehen ist.  Über Selbstbestimmung bei der Geburt und über das, was schiefläuft in der Geburtshilfe, braucht es eine breite öffentliche Diskussion.

Hätte das Hilfetelefon eine Anlaufstelle für Sie sein können?

Das Hilfetelefon hätte sicher eine Anlaufstelle für mich sein können. Ich bin sehr froh, dass es immer mehr Hilfsangebote gibt und die Informationen dazu immer einfacher zugänglich sind. Es sind so viele Frauen betroffen, die Hilfe brauchen. Ich wünsche mir sehr, dass sie die Hilfe schnell und auch unbürokratisch bekommen.

Zum Hintergrund:

Studien 

Studien belegen, dass bis zu 30 Prozent der Frauen die Geburt ihres Kindes als traumatisch erleben. Therapeutinnen wie Viresha J. Bloemeke oder Psychoanalytiker wie Ludwig Janus oder Karl Heinz Brisch weisen schon länger auf den Zusammenhang zwischen einer schwierigen Geburtserfahrung und Folgen für Mutter, Kind und die Familie als Ganzes hin. Dazu zählen Bindungsstörungen, Ängstlichkeit im Umgang mit dem Kind, Angst vor einer weiteren Schwangerschaft sowie postpartale Depressionen bis hin zur posttraumatischen Belastungsstörung. Kinder reagieren auf belastende Geburtserfahrungen beispielsweise mit dem sogenannten Schreibabysyndrom, Schlafproblemen sowie psychischen und motorischen Auffälligkeiten.

Quelle Traumatisierung: Kranenburg L, Lambregtse-van den Berg M, Stramrood C. Traumatic Childbirth Experience and Childbirth-Related Post-Traumatic Stress Disorder (PTSD): A Contemporary Overview. Int J Environ Res Public Health. 2023 Feb 4;20(4):2775. doi: 10.3390/ijerph20042775. PMID: 36833472; PMCID: PMC9957091.

Quelle Gewalt/ psychische Gesundheit: Leinweber, Julia, Jung, Tina, Hartmann, Katharina and Limmer, Claudia. „Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe – Auswirkungen auf die mütterliche perinatale psychische Gesundheit“ Public Health Forum, vol. 29, no. 2, 2021, pp. 97-100. https://doi.org/10.1515/pubhef-2021-0040

Patientenrechtegesetz

Laut Bürgerlichem Gesetzbuch (BGB) muss die zu behandelnde Person vor jeder medizinischen Maßnahme zwingend aufgeklärt werden und dieser zustimmen.

Medizinische Eingriffe ohne oder mit unzureichender Aufklärung stellen strafrechtlich eine Körperverletzung dar.

Quelle Gesetz: Paragraf 630d, f, https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__630e.html). 

Quelle Strafrecht: https://www.aerzteblatt.de/archiv/188591/Aufklaerungspflicht-Teil-2-Strafbarkeit-von-Aerzten-bei-unzureichender-Patientenaufklaerung).

Über das Hilfetelefon nach schwieriger Geburt:

Das Hilfetelefon nach schwieriger Geburt ist ein Projekt der Bundeselterninitiative Mother Hood e.V. und der International Society for Pre- and Perinatal Psychology and Medicine, ISPPM e.V. Die Idee zu diesem in Deutschland einmaligen Angebot entstand, als die ehemalige Präsidentin der ISPPM, Paula Diederichs, und die Vorständin von Mother Hood e.V., Katharina Desery, sich über die Zustände in der geburtshilflichen Versorgung sowie fehlende Unterstützungsangebote für Frauen und ihre Familien austauschten. Mit dem Hilfetelefon haben sie eine erste Anlaufstelle geschaffen. Es besteht seit Juni 2020.

Pressekontakt: Katharina Desery, Telefon +49 (0)163 7274735,
E-Mail: presse@hilfetelefon-schwierige-geburt.de

Über Mother Hood e.V.:

Bei Mother Hood e.V. setzen sich Eltern bundesweit für eine gute Versorgung von Mutter und Kind vor, während und nach der Geburt ein. Durch Kreißsaalschließungen, Personalmangel in Kliniken und Lücken in der Hebammenversorgung ist eine sichere Geburtshilfe nicht mehr überall gegeben. Zu den Hauptforderungen von Mother Hood gehören unter anderem die Eins-zu-Eins-Betreuung durch eine Hebamme und die Wahrung des Rechts auf die freie Wahl des Geburtsortes (www.mother-hood.de).

Über ISPPM e.V.:

Die International Society for Pre- and Perinatal Psychology and Medicine, ISPPM, beschäftigt sich mit der frühesten Phase der menschlichen Entwicklung, beginnend vor der Empfängnis bis nach der Geburt. Sie begreift diesen prä- und perinatalen Lebensabschnitt als untrennbar verknüpft zwischen Mutter und Kind und ihrer Umwelt. In der ISPPM kommen zahlreiche Professionen zusammen, um auf der Grundlage authentischer wissenschaftlicher Methoden die Bedeutung der prä- und perinatalen Erfahrungswelt zu ergründen und dieses Wissen in die Praxisfelder rund um Schwangerschaft, Geburt und Therapie umzusetzen sowie gesellschaftspolitisch Einfluss zu nehmen. (www.isppm.de)